Westfalen-Blatt vom 30.09.2022, von Sabine Robrecht
Angst ist eine schlechte Botschaft
Toleranz ist nichts für Feiglinge. Denn Toleranz erwächst nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus durchdachten Standpunkten. Und auch die fallen nicht vom Himmel, sondern wollen – im Diskurs und beständiger Selbstreflexion – entwickelt werden. Damit wir auch Grenzen der Toleranz erkennen. Wo die liegen , skizzierte Altbundespräsident Joachim Gauck am Mittwochabend auf Einladung der Volkshochschule Höxter-Marienmünster eindrucksvoll vor mehr als 350 Zuhörern.

„Schön, dass wir uns treffen“, begrüßte Joachim Gauck am Rednerpult der Stadthalle Höxter sein Publikum. Diese wenigen Worte genügten, um gleich einen Eindruck zu gewinnen, der sich im Verlauf des Abends als zutreffend herausstellte: Dieser Staatsmann und ehemalige Pastor ist gerne unter Menschen. Beim Weg von der Bühne schüttelte er spontan die Hände applaudierender Zuhörer. Und am Büchertisch, an dem er Platz nahm, um das Buch, um das es geht, zu signieren, lächelte er die Menschen an und hatte ein freundliches Wort für sie. Nicht aufgesetzt, sondern authentisch. Herzlich, entspannt, voller Lebensfreude.
Mit 50 zum ersten Mal gewählt.
Entsprechend gelöst und heiter war die Grundstimmung beim Büchersignieren – auch als Bürgermeister Daniel Hartmann noch spät hereinschneite. Wegen eines unaufschiebbaren Termins hatte er beim Vortrag nicht dabei sein können. Begrüßen wollte er den Ehrengast aber trotzdem – als zweiten Bundespräsidenten innerhalb von vier Tagen. Denn am Sonntag erst war das amtierende Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier in Höxter zu Gast gewesen, um das Jubiläumsjahr zum 1200jährigen Bestehen der ehemaligen Benediktinerabtei und heutigen Welterbestätte Corvey zu eröffnen. Seinem direkten Vorgänger, Joachim Gauck, ist Corvey bekannt, wie er nach dem Vortrag signalisierte. Er überlegte, am nächsten Morgen vor der Rückreise nach Berlin im Welterbe vorbeizuschauen. Oder für einen Corvey-Besuch wiederzukommen.
Höxter und seine Menschen haben bei dem prominenten Gast einen guten Eindruck hinterlassen. „Das Publikum war besonders aufmerksam“, sagte der für seine 82 Jahre äußerst vitale Staatsmann. Hellhörig machte er die Zuhörer sofort. Denn nach dem kurzen, aber herzlichen Eisbrecher führte er eindringlich vor Augen, „dass wir uns in Zeiten des Krieges treffen“. Deshalb „müssen wir zuallererst über Intoleranz sprechen“. Anständige Menschen müssten intolerant sein gegenüber dem Kriegstreiber, Aggressor und Kriegsverbrecher Putin. Er sei ohne jeden Grund über die Ukraine hergefallen. „Deshalb erwarten wir von unserem Kanzler, dass er seiner Zeitenwende-Rede eine beständige Politik der Zeitenwende folgen lässt.“
Das Putin-Regime, dessen machtstrukturellen Hintergründe der Gast einleuchtend erläuterte, sei ein System der Verkommenheit und der Lügen. Jeglichem Verständnis für ihn erteilte Gauck eine klare Absage. In diesem Fall, dem Angriff auf die Ukraine, gehörten nicht, wie im Streit zwei dazu. Die Schuld liege bei einem – bei Putin. „Wenn wir diesem Feind Räume in unser Denken und Fühlen geben, dann geht das nicht. Punkt.“

Gauck weist Kritik an Haltung zur AfD zurück
Diesen deutlichen Worten folgte ein langer Szenenapplaus. Und ein klarer Schnitt: Jetzt wurde der Altbundespräsident persönlich. Sprach von seiner Kindheit, die in der Nazidikatur begonnen hat, und vom Aufwachsen in der DDR, um auf eine Diskrepanz überzuleiten: Im Elternhaus lernte er Toleranz auf der Basis der Menschenwürde jedes einzelnen und in der Schule erlebte er die Erziehung zum linientreuen sozialistischen Menschen. Umso deutlicher, wenn auch ohne es intellektuell zu reflektieren, wurde ihm das Phänomen der Toleranz bewusst.
Mit 50 (!) durfte der damalige evangelische Pastor zum ersten Mal in einer freien, gleichen und geheimen Wahl wählen. Es war am 18. März 1990. „Ich hatte Freudentränen in den Augen und werde ich nie eine Wahl versäumen. Merken Sie sich meine Geschichte. Und wenn Sie dann nicht wählen gehen, erscheine ich Ihnen im Traum“, verpackte der charismatische Redner seinen Appell freundlich. Um dann aber auch gleich wieder dorthin zurückzukehren, worauf er hinaus wollte: Bei diesen ersten freien Wahlen haben es auch ehemalige SED-Leute in die Volkskammer geschafft. Die mochte Gauck nicht. „Aber sie sind in demokratisch gewählt worden. Deshalb musste ich sie respektieren.“ Diese Art der Toleranz – das Ertragen – gelte jetzt für die AfD. Er halte sie für völlig überflüssig. Demokratisch gewählt, müsse man sie aber ertragen – allerdings nicht still. Es gelte den Mund aufzumachen und über Positionen dieser Partei zu streiten. Seine Haltung zur AfD habe ihm aus dem linksliberalen Lager die Kritik eingebracht, er sympathisiere mit Rechtsaußen. Das wies der Ex-Bundespräsident entschieden von sich. „Ich bin Ehrenvorsitzender der Vereinigung ‚Gegen Vergessen – Für Demokratie‘.“ Und er bezeichnete sich als „linker liberaler Konservativer“. Als solcher möchte der ehemalige Pastor nicht, dass das Wertkonservative aus der Gesellschaft verschwindet und nur noch Fortschrittsneurotiker übrig bleiben. Es müsse erlaubt sein, dass Menschen ihre Nation lieben – eine Nation des Grundgesetzes, „das beste Deutschland, was wir je hatten“. Dieses sei auch von Konservativen mitgestaltet worden. Wenn allerdings antieuropäische Positionen ins Spiel kommen, gelte es wieder zu streiten.
Deutsche haben alle „Rücken“
Sorgen hinsichtlich der Vielfalt teilt Gauck nicht. Und argumentierte mit Humor: „Ohne Vielfalt geht es nicht. Wer sticht uns denn sonst den Spargel oder pflückt uns die Erdbeeren? Wir Deutschen haben doch alle Rücken.“
Die stille Toleranz höre an einem Punkt auf – nämlich dann, wenn die Werte des Grundgesetzes infrage stehen. Wenn etwa ein türkischer Mann aus seinem Umfeld die 15-jährige Tochter zwangsverheiraten will, „dann erlaube ich mir zu sagen, dass weibliche Menschen in diesem Land die gleichen Rechte haben. Deshalb bin ich nicht reaktionär“. Toleranz bleibe immer eine Anstrengung , schlussfolgerte Gauck, dessen Buch nicht umsonst den Titel „Toleranz nicht einfach“ trägt, aber ein hohes Gut. Sie sei Ausdruck menschlicher Reife und eine zivilisatorische Leistung, die den Menschen wachsen lässt und ein friedliches Miteinander ermöglicht“.
Weiter an das Gelingen glauben
Den Seelsorger und aufrechten Demokraten hörten die Gäste heraus, als er ihnen auf Bitten des Gastgebers, VHS-Leiter Rainer Schwiete, Mut für die Herausforderungen der schwierigen Zeit zusprach: „Wir müssen uns widerständig machen gegenüber den Medien, die uns seit Frühsommer erzählen, wie schlimm der Winter wird. Wir werden sehen, wie es wird.“ Die Heizung von 23 auf 21 Grad runterzudrehen, sei nicht gesundheitsgefährdend. Dann ein Plädoyer für dieses Land: „Es ist durchzogen von einem Netzwerk Ehrenamtlicher. Überall helfen Menschen: im Sport, in den Kirchen, im Naturschutz.“ Gauck warb um Vertrauen in das, was an Kraft in diesem Land steckt. „Angst, Furcht und Alarmismus sind eine schlechte Botschaft. Wir müssen weiter an das Gelingen glauben.“
